Artikel aus der Zeitschrift: “AFZ-DerWald” 04/2020 mit freundlicher Genehmigung des Autors, Hans-Joachim Bannier:

Im Zeitalter der Wissenschaft glauben viele Menschen heute nur noch an das, was wissenschaftlich erforscht ist, und sind überzeugt davon, dass wir heute viel mehr wissen als die Menschen früherer Generationen. Gerade im Umgang mit der Natur haben wir jedoch im Zeitalter von Chemie und Technik nicht nur Wissen hinzugewonnen, sondern in vielen Fällen auch altes Erfahrungswissen verloren.

So gehörte die Verwendung von Lehm als einfaches und fast überall verfügbares Heilmittel in der (Obst-)Baum- pflege noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zu den Kenntnissen, die im gärtnerischen Alltag allgemein verbreitet waren. Die Verwendung von Lehm gehörte zum praktischen Landwissen, das von einer Generation an die nächste weitergegeben wurde, ohne dass die Wissenschaft sich je explizit damit befasst hat.
Dabei sind die Erfolge der Lehmbehandlung teilweise so augenfällig und die Einsatzmöglichkeiten für Lehm so vielfältig, dass sich auch die professionelle Großbaumpflege dringend mit der positiven Wirkung des Einsatzes von Lehm beschäftigen sollte.

In der AFZ-Der Wald Nr. 20/2019 wurden einige Beispiele vorgestellt, wie Lehm zu einer bestmöglichen Verheilung diverser Baumwunden beitragen kann. In dieser Ausgabe folgen nun einige Beispiele dafür, welche Möglichkeiten der Einsatz von Lehm bietet, u. a. auch bei der Rettung scheinbar verlorener Bäume.

Wiederanheften gerissener Äste

Bei einem ca. 30-jährigen Apfelbaum brach im August 2015 einer der Hauptäste (Durchmesser ca. 20 bis 25 cm) unter der Last der Früchte und riss eine breite und tiefe Wunde bis weit in den Stamm hinein (Abb. 1).

Abb. 1: Nach einem Astbruch scheint der Starkast verloren. Auch die Nachbaräste – und damit der ganze Baum – sind durch den starken Bruch gefährdet.

Dadurch, dass der mindestens 5 m lange Ast sich nach dem Bruch außen auf dem Boden abstützte, hing seine Rinde auf der Unterseite noch einen Streifen breit am Stamm.

Hätte man diesen Ast am Stamm entfernt, wäre nicht nur der Stamm erheblich beschädigt gewesen, sondern es hätte zudem die Gefahr bestanden, dass die direkt benachbarten Äste rechts und links ebenfalls ausreißen, da ihre Verankerung im Stamm durch das Ausreißen des Nachbarastes ebenfalls betroffen war. Da der Apfelbaum an einem von Spaziergängern frequentierten Weg steht, hätte daher zur Gefahrenabwehr zumindest ein weiterer Hauptast gekappt oder zumindest stark eingekürzt werden müssen, was dann allerdings auch die Statik des gesamten Baums in Mitleidenschaft gezogen hätte.

Ermuntert durch die schon vielfach erprobte Wirkung von Lehmverbänden wurde daher die Alternative gewählt, den heruntergebrochenen Ast außen stark einzukürzen, um ihn zu entlasten. Das verbliebene ca. 2 m lange Aststück wurde anschließend wieder an den Baum angedrückt und mit ein paar Holzschrauben fixiert.

Zuvor wurden in der Bruchstelle diverse Holzsplitter, die einem Andrücken des Astes im Wege standen, entfernt. Anschließend wurde an den seitlichen Rändern des Astes – dort wo der Ast aus dem Stamm ausgerissen war – die Rinde beiderseits der Rissstelle mit einem scharfen Messer angeschnitten. Auf diese Weise wurden noch einmal frische Kambiumränder freigelegt, um diese zur Zellbildung anzuregen. Die frisch angeschnittenen Wundränder wurden anschließend mit einer dicken Schicht nassen Lehms eingepackt, sodass das Kambium feucht gehalten und die Kallusbildung beschleunigt wurde.

Drei Jahre später ist ein Teil des ausgerissenen Astes bereits wieder mit dem Stamm verbunden bzw. am Stamm „angewachsen“ (Abb. 2). An den Stellen, wo die Rinden von Stamm und Ast sich zwar berühren, das Verwachsen aber noch nicht komplett erfolgt ist (Abb. 3), kann man jetzt noch einmal mit einem scharfen Messer die Wundränder rechts und links frisch anschneiden und die Lehmprozedur wiederholen. Im nächsten Jahr wird der Ast dann komplett an den Stamm angewachsen sein (Abb. 4).

Abb. 2: Der eingekürzte Starkast wurde mit Schrauben an den Stamm geheftet und an den Wundrändern dick mit Lehm verschmiert.

Abb. 3: Der wieder angeschraubte Starkast wächst nach und nach mit der benachbarten Rinde zusammen. Dort, wo die Rinde von Stamm und Ast sich berührt, kann man ihr Verwachsen fördern, indem man die Ränder mit einem scharfen Messer erneut anschneidet und mit Lehm verschmiert.

Abb. 4: Überall dort, wo die Rinde von Stamm und Ast wieder vollständig zusammengewachsen ist, bekommt der Ast neuen Halt, der sich durch jeden neuen Jahresring verstärkt.

Natürlich ist der Halt des Astes zunächst nur über die äußeren, neu gebildeten Jahresringe gegeben, da der innere Bruch kaum verheilen wird. Aber in dem Maß, in dem der Ast jetzt wieder neu austreibt und an Gewicht zunimmt, wird mit jedem folgenden Jahresring auch seine Belastbarkeit zunehmen. Auch die Nachbaräste sind von Jahr zu Jahr weniger abrissgefährdet.

Ein fast identischer Eingriff wurde bereits einige Jahre zuvor an einem jungen Pflaumenbaum vorgenommen.
Dort hatte eine Praktikantin beim Abspreizen eines Seitenastes – um diesen etwas flacher zu stellen – versehentlich den ganzen Ast aus seiner Verankerung am Stamm gerissen. Der Ast war nur noch mit einem Streifen Rinde auf seiner Unterseite mit dem Stamm verbunden. Statt den Ast zu entfernen, wurde
er wieder in seine ursprüngliche Position gebracht und in dieser Lage mithilfe von Bindfäden und Spreizholz fixiert, damit er nicht erneut ausreißen konnte. Anschließend wurden auch hier alle Wundränder mit einem scharfen Messer angeschnitten und die gesamte Wunde in einen dicken Lehmverband eingepackt, der – mangels Juteband – einfach mit alten Lappen fixiert wurde. Eine Schraube war in diesem Fall nicht
nötig, da der abgerissene Ast noch nicht so schwer war.

Schon nach einem Jahr war der Ast wieder angewachsen (Abb. 5). Fünf Jahre nach dieser Operation – der Baum ist inzwischen zu stattlicher Größe herangewachsen – ist der ehemals abgerissene Ast sogar wieder belastbar.

Abb. 5: Der linke Ast dieser jungen Zwetschge war ebenfalls ausgerissen. Er wurde allein mit Bindfaden und Spreizholz (ohne Schrauben] wieder in seine alte Position gebracht und fixiert; die Ränder der Bruchstelle wurden eingelehmt. Ein Jahr später ist der Ast fest angewachsen, nach zwei bis drei Jahren sogar wieder voll belastbar.

Baumrettung nach Vandalismus

Dramatisches erlebte der Besitzer einer Obstwiese bei Bielefeld: Unbekannte hatten über die Ostertage 2015 die Kronen seiner sechs Jahre alten Apfelbäume abgesägt. Einige Baumkronen lagen komplett abgesägt am Boden, aber bei sieben Bäumen hingen die abgesägten Kronen mit einem schmalen Rindenfetzen noch am Stamm (Abb. 6).

Abb. 6: Vandalismusschaden an einem jungen Obstbaum

Hier wagte man ein Experiment: Die Kronen wurden vorsichtig in voller Größe auf den Stamm gesetzt und mit jeweils drei Schrauben wieder mit ihm verbunden. Hochgeklappte Rindenlappen wurden mithilfe kleiner Nägelchen zurück an den Stamm gedrückt. Die Ränder sowohl der vertikalen als auch der horizontalen Wunden wurden danach – da sie in den drei Tagen nach dem Vorfall bereits eingetrocknet waren – frisch angeschnitten. Anschließend versah man alle Wunden mit einer gut 2 bis 3 cm dicken Packung nassen Lehms. Sie wurden mit einem Jutegewebe umwickelt, damit der Lehm nicht herabfallen kann (Abb. 7). Als Teil des Experiments wurden die wieder aufgesetzten Baumkronen ganz bewusst nicht stärker zurückgeschnitten als bei einem normalen Erziehungsschnitt.

Abb. 7: Die Krone des abgesägten Baums wird wieder auf den Stamm gesetzt und aufgeschraubt, hochgeklappte Rinde mit kleinen Nägelchen fixiert. Anschließend wird ein dicker Verband aus Lehm aufgebracht und mit Jutegewebe umwickelt.

Bei der Kontrolle im nächsten Winter waren unter der Lehmschicht sowohl der horizontal verlaufende Sägeschnitt als auch alle anderen Wunden komplett zugeheilt (Abb. 8).

Abb. 8:  Ein Jahr später ist die Krone wieder angewachsen und der Sägeschnitt noch gut zu erkennen. Jetzt werden auch die Stammaustriebe entfernt.

Der Wundkallus, der sozusagen als erster neuer Jahresring außen über den Sägeschnitt gewachsen war, war so dick, dass es nicht einmal mehr möglich war, die Köpfe der Schrauben wiederzufinden, um diese zu entfernen. Der Neutrieb in der Krone maß zum Teil 70 cm und mehr und war somit nicht geringer als der Neutrieb ungeschädigter Jungbaumkronen auf derselben Obstwiese. Da durch den Sägeschnitt natürlich auch ein Saftstau an der Schnittstelle entstand, gab es auch einige Stammaustriebe unterhalb der Schnittstelle, die das Gesamtergebnis aber nicht beeinträchtigt haben und nun entfernt werden konnten. Auch fünf Jahre später stehen die Kronen in ihrer Entwicklung kaum hinter normal und unbeschädigt gewachsenen Baumkronen zurück.

Veredeln mit Lehm

Lehm lässt sich im Obstgarten (und in der Baumschule) auch noch an anderer Stelle verwenden: beim Veredeln von Bäumen. Statt mit Lacbalsam oder Wachs kann man die Veredlungsstellen auch einfach mit einer dünnen Schicht schmierig-nassen Lehms einstreichen. Hier muss der Lehm nur so lange halten, bis die Veredlung angewachsen ist. Dass der Lehm Feuchtigkeit speichert, kann für das Anwachsen der Veredlung sogar von Vorteil sein. Bei anhaltend trockenem Wetter (nach der Veredlung) könnte man die Lehmanstriche ggf. auch mit einem feinen Wassersprühnebel befeuchten.

Einsatzgebiet Straßenbäume

Eines der größten potenziellen Einsatzgebiete von Lehm in der Baumpflege wäre das Behandeln großer Baumwunden nach Anfahrschäden im Straßenverkehr. Hier wäre die Behandlung mit Lehm weit effizienter als das seit einigen Jahren praktizierte Einpacken der Stammwunden mit Plastikfolien. Voraussetzung ist allerdings, dass ein zentraler Baum-Notruf eingerichtet wird, an den sich alle Polizeidienststellen nach Baumunfällen wenden können und von dem aus örtliche Vertragspartner benachrichtigt werden, die die beschädigten Bäume umgehend mit Lehmpackungen behandeln, noch bevor die Sonne die Kambiumschicht der Bäume hat eintrocknen lassen und die Schäden dann irreversibel sind.