Genetische Verarmung und Inzucht im modernen Erwerbs-Obstbau: vor allem alte Apfelsorten bleiben aktuell – (nicht nur) für Züchter, Selbstversorger, Obstverarbeiter und Allergiker. 

Krankheitsanfälligkeit und Erkrankungen neuer Apfelsorten

Von Hans-Joachim Bannier

Bei der Kartierung alter Streuobstbestände fällt immer wieder auf, dass dort einzelne alte Obstsorten stehen, die durch eine große Baumgesundheit und Vitalität hervorstechen und die gesunde und fleckenfreie Früchte hervorbringen, obwohl dort schon seit Jahrzehnten niemand Pflanzenschutzmaßnahmen durchführt, wie sie in modernen Erwerbsobst-Plantagen üblich sind.

Warum die modernen Marktsorten eine vergleichbare Vitalität nicht aufweisen und warum wir die Vielfalt alter Sorten unbedingt erhalten sollten, soll hier am Beispiel des Apfels erläutert werden.

Unterschiedliche Vitalität alter und neuer Apfelsorten in Streuobstbeständen – Martens Sämling (oben) und Jonagold (unten).

Vor gut einhundert Jahren hat es allein in Deutschland über eintausend in der Literatur dokumentierte alte Apfelsorten gegeben. Die reale, in dieser Zeit im Anbau befindliche Sortenzahl dürfte sogar noch größer gewesen sein, da viele der „Landsorten“ – wie auch viele der in dieser Broschüre dokumentierten rheinischen Regionalsorten – seinerzeit nicht schriftlich dokumentiert worden sind.

Viele dieser Sorten waren seinerzeit überregional verbreitet, andere nur lokal oder regional. Manche der in Deutschland entstandenen Sorten haben später internationale Verbreitung gefunden, umgekehrt haben Sorten aus aller Welt den Weg zu uns gefunden. Auf diese Weise entstand ein „Sortenpool“ von sehr vielfältiger Herkunft und großer genetischer Vielfalt, was Frucht- und Baumeigenschaften sowie Widerstandsfähigkeit gegen Krankheiten und Schädlinge betrifft.

Heute sind im modernen Erwerbsobstbau dagegen nur noch wenige Sorten im Anbau, und diese sind obendrein genetisch eng verwandt bzw. fast durchgängig aus denselben Elternsorten gezüchtet worden. Wie aus der nebenstehenden Aufstellung hervorgeht, stammen fast sämtliche der heutigen Marktsorten von einer folgenden sechs Ahnensorten ab:

  • Golden Delicious,
  • Jonathan oder
  • Cox Orange,
  • Red Delicious,
  • McIntosh
  • und James Grieve.

Einzig Boskoop und Granny Smith sind nicht mit diesen „Stammvätern“ des modernen Obstbaus verwandt.

Auf der Suche nach der perfekten Weltmarktsorte produziert die heutige Obstzüchtung zwar weltweit eine Vielzahl neuer Sorten. Doch da die Züchter wiederum fast ausnahmslos die heutigen Marktsorten (sowie Zuchtklone, bei denen die oben genannten „Stammväter“ ebenfalls eingekreuzt waren) verwenden, nimmt die genetische Vielfalt weiter ab und die Inzucht in der Obstzüchtung dramatisch zu. Allein die Sorte Golden Delicious ist an rd. 60 % aller Apfelzüchtungen der vergangenen acht Jahrzehnte beteiligt und wurde in viele Sorten gleich mehrfach eingekreuzt. 

Wie weit die Inzucht inzwischen geht, ist am Beispiel der tschechischen Neuzüchtung Merkur in einer Grafik dargestellt, die Sie sich hier  anschauen können.

Auswahl wichtiger Marktsorten und Neuzüchtungen beim Apfel
und ihre Abstammung

  • Akane (Syn. Primerouge) = Jonathan x Worcester Parmäne
  • Alkmene (D 1961) = Oldenburg x Cox Orange
  • Braeburn (NZ 1952) = Lady Hamilton (NZ)(vermutet) x Cox orange (vermutet)
  • Delbarestivale (Syn. Delcorf) = Stark Jon Grimes x Golden Delicious
  • Delbard Jubilee (Syn. Delgollune) = Golden Delicious x Lundbytorp
  • Elstar = Golden Delicious x Ingrid Marie (Cox orange x unbek.)
  • Fiesta = Cox Orange x Idared (Jonathan x Wagenerapfel)
  • Florina = Zuchtklon u.a. aus Morgenduft, Golden Delicious, Jonathan, Starking u.a.)
  • Fuji = Ralls Janet x Golden Delicious
  • Gala = Kidds Orange (Red Delicious x Cox Orange) x Golden Delicious
  • Gerlinde = Elstar [Golden Delicious x Ingrid Marie (Cox orange x unbek.)] x TSR15T3 (Zuchtklon).
  • Gloster (D 1969) = Glockenapfel x Red Delicious
  • Holsteiner Cox = Cox Orange x unbekannt
  • Idared = Jonathan x Wagenerapfel
  • Ingol = Ingrid Marie (Cox orange x unbek.) x Golden Delicious
  • Jonagold = Jonathan x Golden Delicious
  • Karmijn de Sonnaville = Cox orange x Jonathan
  • Melrose = Jonathan x Red Delicious
  • Mutsu = Golden Delicious x Indo
  • Pilot = Clivia (Oldenburg x Cox orange) x Undine (Jonathan x unbek.)
  • Pink Lady (Syn. Cripps Pink) = Lady Williams x Golden Delicious
  • Pinova = Clivia (Oldenburg x Cox orange) x Golden Delicious
  • Relinda = Undine (Jonathan x unbek.) x BX 44.14 (Zuchtklon)
  • Rewena = BV 67.47 (Zuchtklon u.a. aus Cox orange) x BX 44.14 (Zuchtklon)
  • Rubinette (Syn. Rafzubin) = Golden Delicious x unbekannt, vermutl. Cox orange
  • Santana = Elstar [Golden Delicious x Ingrid Marie (Cox orange x unbek.)] x Priscilla (Zuchtklon u.a. aus Golden Delicious, McIntosh, Red Delicious und Malus floribunda)
  • Summerred = Summerland (McIntosh x Golden Delicious) x unbekannt
  • Teser = Zuchtklon TSR 29, u.a. aus Antonowka, Golden Delicious, Gravensteiner
  • Topaz (CZ 1994) = Rubin [Golden Delicious x Lord Lambourne (James Grieve x Worcester Parmäne)] x Vanda [Jolana (Zuchtklon u.a. aus Golden Delicious u. Malus floribunda) x Lord Lambourne (James Grieve x Worcester Parmäne)]

Eine genetische Verarmung mit Folgen: Denn ausgerechnet die sechs Stammväter des modernen Obstbaus sind – ungeachtet ihrer geschmacklichen und Ertragseigenschaften, die sie für den Obstbau seinerzeit attraktiv gemacht haben – hoch krankheitsanfällig.

Golden Delicious z.B. ist hoch anfällig für Blatt- und Fruchtschorf sowie für Virosen, Jonathan ist extrem anfällig für Mehltau (außerdem für Feuerbrand und Schorf).

Cox Orange wiederum ist hoch anfällig für Triebschorf, Obstbaumkrebs und Läuse sowie mittel anfällig für Mehltau.

James Grieve ist hoch anfällig für Obstbaumkrebs und Läuse und McIntosh deutlich anfällig für Mehltau und Obstbaumkrebs.

Dramatische Unterschiede in der Vitalität der Belaubung bei  der alten Apfelsorte Edelborsdorfer (oben) und der neuen Apfelsorte Jonathan (unten). Beide Sorten stehen in der Anlage des Verfassers – ohne Fungizid-Behandlung – unmittelbar nebeneinander.

Mit dem Siegeszug von Golden Delicious & Co. sind die gravierenden Vitalitätsprobleme und Krankheitsanfälligkeiten dieser Sorten in den gesamten Obstbau und in die Obstzüchtung in einem Ausmaß eingeschleppt worden, das heute von den Obstbau-Experten landauf, landab nicht mehr als spezifisch historische Entwicklung erkannt, sondern als „normal“ für den Obstbau angesehen wird. Ein Obstbau ohne intensiven Fungizideinsatz erscheint heutigen Obst-Experten völlig undenkbar.

Kaum noch bekannt ist, dass die Dominanz dieser „Stammvatersorten“ im Obstbau bzw. in der Obstzüchtung seinerzeit überhaupt erst möglich geworden ist, als die chemische Industrie die chemischen Pflanzenschutzmittel auf den Markt brachte, mit deren Hilfe man trotz der hohen Krankheitsanfälligkeit dieser Sorten makelloses Obst produzieren konnte. Nicht umsonst konnte der Golden Delicious, obwohl bereits 1890 in den USA entstanden, seinen Siegeszug um die Welt erst ab den 1930er Jahren antreten und gelangte in Deutschland erst nach 1950 in den Anbau.

Gleichzeitig mit dieser Entwicklung sind zahlreiche robuste und gut tragende Apfelsorten (und auch andere alte Obstsorten) in Vergessenheit geraten und im Lauf der folgenden Jahrzehnte teilweise sogar verschollen.

Erst wenn man die heutigen Markt- und Züchtungssorten in pflanzenschutzmäßig unbehandelten Streuobstbeständen beobachtet und mit alten Apfelsorten im Streuobst vergleicht, werden die starken Vitalitätsprobleme eines Großteils dieser Sorten in dramatischer Weise augenfällig. Viele machen hier schon im Laub einen kränklichen Eindruck und liefern häufig nur kleine und/oder schorffleckige Früchte.

Unterschiedliche Vitalität alter und moderner Apfelsorten in Streuobstbeständen – alte Apfelsorte Rote Sternrenette (oben) und neue Apfelsorte  Gloster (unten)

Der Biologische Erwerbsobstbau ist von Problemen der Sortenentwicklung im heutigen Marktanbau besonders stark betroffen, da die Pflanzenschutz-Strategien sich hier wesentlich komplizierter gestalten als im konventionellen, mit chemisch-synthetischen Fungiziden arbeitenden Erwerbsobstbau. Ohne den Einsatz von pilzhemmend wirkenden Kupfer- und Schwefel-Belagsspritzungen können die Bio-Obstbauern kaum marktfähiges Obst produzieren. Die Bio-Anbauverbände stemmen sich daher mit Vehemenz gegen ein mögliches Kupferverbot, das in der EU aufgrund ökologischer Bedenken schon länger diskutiert wird.

Ein vermeintlicher Ausweg schienen da die sog. schorf-resistenten Sorten zu sein, die in den letzten Jahrzehnten gezüchtet wurden und sich teilweise schon in der Praxis des Öko-Anbaus befinden (z.B. die Sorten Topaz, Santana, Gerlinde u.a.). Auch diese Sorten sind jedoch zu nahezu einhundert Prozent ‚Nachfahren’ von Golden Delicious, Cox Orange, Jonathan & Co. Die Schorfresistenz dieser Sorten hat man durch das Einkreuzen von Wildäpfeln zu erreichen versucht, wobei die Züchter weltweit fast durchgängig dieselbe Wildapfelart verwendet haben. „Nahezu 95% der heutigen schorfresistenten Apfelsorten stützt sich auf die Vf-Resistenz von Malus floribunda 821“ (RUESS, 2000), einer nur monogen verankerten Resistenz.

 

Dass heute nicht die polygen verankerten Resistenzen alter Apfelsorten gegenüber Schorf für die Züchtung verwendet werden, sondern ausschließlich die monogene Vf-Resistenz von Malus floribunda 821, hat züchterische Vorteile, weil das Vf-Träger-Gen mittels molekularem Marker kenntlich gemacht und so die erfolgreiche Einkreuzung der Vf-Resistenz unmittelbar kontrolliert werden kann. Diese „zeitsparende“ Strategie leistet jedoch nicht nur einer weiteren genetischen Verarmung Vorschub, sondern ihr Erfolg ist auch längst nicht so dauerhaft wie erhofft: So wurde die Vf-Resistenz im Feldanbau inzwischen in vielen Regionen Deutschlands bereits von sich anpassenden Pilzrassen durchbrochen. „Der Durchbruch war möglich, da diese Resistenz monogener Natur ist … und der Pilz durch natürliche Mutation bzw. Rassenauslese diese Resistenz überwunden hat“ (FISCHER, 2003). Der Versuch heutiger Züchter, das Problem durch die Einkreuzung von zwei Resistenzträger-Genen (statt bisher einem) zu lösen, stellt zwar eine Verbesserung dar, dürfte das grundsätzliche Problem aber nicht dauerhaft lösen.

Die monogene Schorfresistenz der Sorte Topaz (oben) ist bereits nach 15 Jahren Feldanbau durchbrochen; die polygene Resistenz des Luxemburger Triumph (unten) dagegen ist schon seit über 150 Jahren stabil.

Auch hat die Fokussierung der heutigen Obstzüchtung auf das Problem Schorfresistenz teilweise den Blick dafür verstellt, dass es im Obstanbau nicht nur um Schorf, sondern auch um Mehltau, Feuerbrand und andere Krankheiten geht und dass im ökologischen Anbau sowie im Streuobst- und Selbstversorgeranbau eine umfassende Vitalität der Pflanze gegenüber Krankheiten, Schädlingen und Witterungseinflüssen anzustreben ist.

Alte Apfelsorten – Gen-Pool für künftige Züchtungen

Viele alte Apfelsorten verfügen über eine sog. polygene Schorfresistenz, d.h. hier sorgen mehrere Gene im Zusammenspiel für die Widerstandsfähigkeit gegen Schorf. Diese Resistenzen haben sich bei manchen Sorten bereits über viele Jahrzehnte oder auch Jahrhunderte gehalten und sind offenbar weit stabiler als die monogenen Schorfresistenzen der heutigen Züchtungssorten.

Dies ist auch der Grund, warum man eine Sorte wie den Sorten Luxemburger Triumph auch in obstbaulich ungünstigen Lagen – etwa Höhenlagen, Regionen mit hohen Niederschlägen oder Tal- und Muldenlagen – pflanzen kann, wo die meisten anderen Apfelsorten versagen. Auch Sorten wie Martens Sämling, Seestermüher Zitronenapfel, Prinz Albrecht von Preußen, Edelborsdorfer, Rote Sternrenette, Brettacher, Finkenwerder Prinzenapfel, Jakob Fischer, Zabergäu-Renette sowie auch viele andere alte Apfelsorten verfügen über eine hohe Widerstandsfähigkeit gegen Krankheiten, mit der die Sorten des modernen Erwerbsobstbaus nicht ansatzweise mithalten können. Das ist auch einer der Gründe, weshalb sie sich einst im Markt- oder auch Selbstversorgeranbau selbst dann gehalten haben, wenn sie geschmacklich hinter Sorten wie Elstar oder Jonagold zurückblieben.

Qualifizierte Aussagen über die genetisch begründeten Vitalitätsunterschiede alter und neuer Sorten im Vergleich können nur in Obstbeständen getroffen werden, in denen das unterschiedliche Anfälligkeitsniveau nicht durch einen regelmäßig gefahrenen Pflanzenschutz nivelliert wird. Dem Verfasser ist bislang kein wissenschaftlicher Versuch bekannt, in dem die genetischen Vitalitätsvoraussetzungen von Apfelsorten unter den Bedingungen eines „Null-Fungizideinsatzes“ über einen längeren Versuchszeitraum beobachtet und ausgewertet wurden. Eine solche Untersuchung wäre ebenso überfällig wie die Nutzung der Potenziale alter Sorten für die Züchtung. Stattdessen fließen staatliche Forschungsgelder in diesem Bereich zu nicht unerheblichen Teilen in die Gentechnik, von der man sich erhofft, den mühevollen Weg einer Kreuzungszüchtung durch genetische Manipulation der heutigen Marktsorten abzukürzen. Die alten Sorten mit ihren Qualitäten haben die heutigen Forscher dagegen kaum noch im Blick.

Alte Apfelsorten – Basis für den Selbstverbraucher

Die alten Sorten sind nicht nur für die Züchtung interessant. Sie haben vor allem Bedeutung für den Streuobst- und Selbstversorgeranbau. Haus- und Kleingartenbesitzer wollen heute in aller Regel keinen chemischen Pflanzenschutz betreiben, sondern ungespritztes Obst ernten. Auch hat nicht jede Obstwiese und jeder Hausgarten den optimalen Boden und den klimatisch optimalen Standort. Robuste alte Sorten mit zuverlässigen Erträgen und schorffreien Früchten bringen hier mehr als eine zwar exzellent schmeckende, aber empfindliche Sorte, die am ungünstigen Standort nicht gedeiht.

Anders als den Erwerbsobstbauern und den Obstgroßhandel braucht es den Selbstversorger auch nicht stören, wenn eine Sorte etwas druckempfindlich ist oder wenn sie folgernd reift und er den Baum mehrfach durchpflücken muss. Im Gegenteil, die folgernde Reife kann für den Selbstversorger sogar von Vorteil sein. Umgekehrt haben lang lagerbare Sorten wie der Ontario oder dem in Teilen des Rheinlandes verbreitete Grünapfel für den Selbstversorger trotz ihres nicht so überragenden Geschmacks einen höheren Stellenwert als für die Obstbauern, die mit ihrer modernsten Kühltechnik auch einen Elstar (der normalerweise nur bis Januar hält) bis in den Sommer hinein lagern können.

Alte Apfelsorten – vielfältige Nutzungsmöglichkeiten

Manche der alten Obstsorten haben einst gar nicht dem Frischverzehr, sondern speziellen Verarbeitungszwecken gedient, wie z.B. der Herstellung von Fruchtsaft, Trockenobst oder des gerade im Rheinland sehr beliebten Apfel- oder Birnenkrautes. Mit der Aufgabe solcher Verarbeitungstraditionen gehen nicht nur die dafür benötigten Sorten verloren, sondern mit ihnen meist auch das Wissen, warum diese Sorten für bestimmte Zwecke besonders geeignet waren:

  • Die rheinischen Süßäpfel z.B., die aus heutiger Sicht als Tafelapfel nur fad schmecken, hatten beim Kochen von Apfelkraut den Vorteil, dass sie – auf dem Boden des Kessels verteilt – dafür sorgten, dass das Apfelkraut nicht anbrannte.
  • Andere Sorten – wie z.B. die Gelbe Schafsnase oder die Martinsbirne (Syn. Trockener Martin) – sind von ihrer Ernte im Oktober / November bis ins Frühjahr hinein haltbar und wurden einst als Dörr- und Kochfrucht geschätzt.
  • Wir kennen heute keine Tafelbirne, die über eine solch lange und unkomplizierte Haltbarkeit wie die Martinsbirne verfügt. Mit den veränderten Verbrauchergewohnheiten hat diese Sorte bei uns heute weitgehend ihre Bedeutung verloren und droht auszusterben. Dass es jedoch auch anders ginge, zeigt das Beispiel einiger italienischer und französischer Regionen, wo die ‚Martin sec’ (wie die Martinsbirne dort genannt wird) in kleinen Mengen zu recht teuren Preisen als Spezialität gehandelt und in der Feinschmecker-Gastronomie verarbeitet wird: Auch die Züchtung müsste sich eigentlich für die Lagerqualität dieser ungewöhnlichen Birne interessieren.

Alte Apfelsorten: vielfältige Geschmacksrichtungen

Es ist keine Sinnestäuschung, wenn manche Apfelkonsumenten meinen, die heute im Laden erhältlichen Sorten schmeckten „alle ähnlich“ – denn die heutigen Marktsorten sind nicht nur genetisch eng verwandt, sondern infolgedessen auch geschmacklich ähnlich. Genetische Vielfalt alter Apfelsorten – das bedeutet auch mehr Vielfalt des Geschmacks.

Alte Apfelsorten: Vorteil für Allergiker

Für eine Personengruppe schließlich kann die Vielfalt alter Apfelsorten auch heute schon von unmittelbarem Nutzen sein: Schon manche Apfel-Allergiker haben überrascht festgestellt, dass sie bestimmte alte Apfelsorten ohne Problem verzehren können und dass sich die vermeintliche Apfel-Allergie als Allergie gegenüber den heutigen (untereinander eng verwandten) Marktsorten entpuppt.

Apfelsorten für Allergiker – Prinz Albrecht von Preußen (oben) und Notarisapfel (unten)

Gängigen Klischees (z.B. dass „die“ alten Apfelsorten generell als Pflanze robuster oder als Frucht gesünder seien als „die“ neuen Sorten) soll damit keineswegs Vorschub geleistet werden. Denn mitnichten sind alle alten Sorten robust gegenüber Pilzkrankheiten. Leider gehören gerade die namentlich noch relativ bekannten alten Apfelsorten (wie z.B. Goldparmäne, Landsberger Renette, Ingrid Marie, Berlepsch oder Cox Orange) eher zu den empfindlichen und anspruchsvollen Sorten, während auf der anderen Seite viele sehr robuste Sorten heute kaum noch bekannt und populär sind.

Umgekehrt gibt es auch bei den Neuzüchtungen einzelne, die auch unter Feldbedingungen im Streuobst über längere Zeiträume eine hohe Vitalität aufzuweisen scheinen (z.B. Reglindis, Florina, Discovery). Und selbst bei Sorten, deren Eltern hoch empfindlich gegen bestimmte Krankheiten sind, ist eine Vererbung dieser Disposition keineswegs zwangsläufig – ein prägnantes Beispiel dafür ist die Sorte Alkmene (Cox Orange x Oldenburg), die sich im Hausgarten ohne jeden Pflanzenschutz als relativ robust gegen Schorf und Krebs erweist, während beide Elternsorten stark krebsanfällig sind (sowie Cox Orange obendrein hoch anfällig gegen Triebschorf).

Ungeachtet dessen zeigen die vielen hier aufgeführten Beispiele, dass es viele Gründe gibt, die genetische Vielfalt alter Obstsorten zu erhalten. „Niemand kann heute vorhersagen, welche Eigenschaften plötzlich von Interesse sein können, wenn Schädlingskalamitäten auftreten, Klimaveränderungen zu verändertem Auftreten von Schadorganismen führen, die Ernährungsgewohnheiten sich ändern oder ähnliches“ (FISCHER, 2003). „Eigenschaften, welche uns heute wertlos erscheinen mögen, können in Zukunft bei geänderten Sortenanforderungen plötzlich wieder an Bedeutung gewinnen“ (RUESS, 2000/2).

Wir können uns glücklich schätzen, dass zahlreiche alte Obstsorten aufgrund der Langlebigkeit der Hochstamm-Obstbäume – allen Rodeprämien vergangener Zeiten zum Trotz – die Zeiten ihrer „Außerwertsetzung“ überdauert haben. Dieses Kulturgut gilt es zu erhalten, auch dann, wenn nicht jede der Sorten uns heute kurzfristigen Nutzen zu versprechen scheint.

Autor: Hans-Joachim Bannier, Humboldtstr.15, 33615 Bielefeld. Mail: alte-apfelsorten@web.de.
Der Autor betreibt in Bielefeld einen Obstsortengarten mit über 200 alten und neuen Apfelsorten.

Literatur:

FISCHER, M., 2003: Genbank Obst als Arbeitsgruppe des IPK Gatersleben in Pillnitz geschlos-
sen – Bilanz 10-jähriger Arbeit; in: Jahresheft 2003, Hrsg. Pomologen-Verein e.V. (Bezugsadresse: Pomologen-Verein e.V., c/o Joachim Brauss, Deutschherrenstr. 94, Bonn).

PETZOLD, H., 1988: Apfelsorten. Neumann-Vlg. Leipzig – Radebeul.

RUEß, F., 2000: Abwehrmechanismus und Resistenz bei Kernobst, in: Resistente und robuste
Kernobstsorten. Hrsg. Staatl. Lehr- und Versuchsanstalt für Wein- und Obstbau Weinsberg.

RUEß, F., 2000 (2): Nutzen und Wert alter Obstsorten, in: Hartmann, W.: Farbatlas Alte Obst-
sorten, Ulmer-Vlg. 2000.

SILBEREISEN, R. et al., 1996: Obstsortenatlas. Ulmer Vlg., 2. Aufl. 1996.

BANNIER, H.-J. (2004): Genetische Verarmung beim Obst und Initiativen zur Erhaltung der genetischen
Vielfalt, in: Vorträge für Pflanzenzüchtung 62 / 2004 (S. 114-123), Schriftenreihe der
Gesellschaft für Pflanzenzüchtung.